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Die Wurzel des Leidens und das Versprechen der Befreiung: Eine vedantische Perspektive auf Fehlidentifikation und Befreiung

von: Erika Smith Iluszko

Die uralte Weisheit des Vedanta bietet eine tiefe Einsicht in die Natur des menschlichen Leidens, die auch in unserer modernen Welt noch von großer Bedeutung ist. In ihrem Kern liegt eine einfache und doch transformative Wahrheit: Unser Leiden rührt nicht von unseren Erfahrungen selbst her, sondern von unserem grundlegenden Missverständnis, wer wir wirklich sind.

Der Mond und das Wasser: Wahres Bewusstsein verstehen

Eine der schönsten Metaphern der vedantischen Literatur stammt aus Shankaracharyas Atma Bodha, Verse 20-22, wo er das Bewusstsein mit dem Mond vergleicht, der sich im Wasser spiegelt. Diese Metapher veranschaulicht auf elegante Weise die Beziehung zwischen unserem wahren Selbst (Bewusstsein) und dem Geist.

Stell dir einen stillen See in einer klaren Nacht vor. Das Spiegelbild des Mondes erscheint perfekt, unverzerrt. Dies repräsentiert den Geist in seinem reinsten Zustand, fähig, unsere wahre Natur zu reflektieren. Aber wirft man einen Stein in diesen See, so zersplittert die Reflektion, verzerrt sich, wird unklar – genauso wie unser Verständnis unseres wahren Selbst durch die Wellen der Gedanken, Emotionen und Wünsche (vrittis) in unserem Geist getrübt wird.

Das Labyrinth der falschen Identifikation

Nach dem Vedanta liegt die Hauptursache für unser Leiden in dem, was „adhyasa“ oder Überlagerung genannt wird – die Verwechslung unserer vorübergehenden Eigenschaften mit unserem wahren Selbst. Wir sagen „ich bin wütend“, wenn wir Wut empfinden, „ich bin deprimiert“, wenn wir uns niedergeschlagen fühlen, oder „ich bin ein Versager“, wenn wir Rückschläge erleben. Aber Vedanta fragt: Bist du wirklich diese vorübergehenden Zustände?

Wenn du sagst: „Ich habe ein Auto“, ist dir der Unterschied zwischen dir und dem Fahrzeug klar. Du leidest nicht, wenn dein Auto einen Kratzer bekommt, so wie du leidest, wenn dein Körper Schmerzen hat. Warum? Weil du deine Beziehung zum Auto richtig identifiziert hast – als Eigentum und nicht als Identität.

Der Körper: Unsere erste Fehleinschätzung

Die grundlegendste Fehlidentifikation findet bei unserem Körper statt. Während wir Sätze wie „Ich habe einen Körper“ und „Ich bin ein Körper“ intellektuell verstehen, offenbaren unsere Verhaltens- und Gefühlsreaktionen oft eine tiefere Verwirrung. Wenn wir körperliche Schmerzen, Alterung oder Krankheit erleben, rührt unser Leiden oft von dieser falschen Identifizierung her.

Der Vedanta lehrt, dass du deinen Körper, deine Gedanken und Emotionen aus der Perspektive des unveränderlichen Zeugenbewusstseins beobachten kannst, so wie du dein Auto als von dir getrennt betrachtest. Dieses Bewusstsein – deine wahre Natur – wird als Satchitananda (Existenz-Bewusstsein-Glückseligkeit) beschrieben.

Während die Identifikation mit dem physischen Körper unsere grundlegendste Fehlidentifikation ist, lehrt der Vedanta, dass es mehrere andere entscheidende Ebenen gibt, auf denen wir üblicherweise vorübergehende Phänomene mit unserem wahren Selbst verwechseln. Das Verständnis dieser verschiedenen Ebenen der falschen Identifikation ist wesentlich für die Befreiung vom Leiden.

Fehleinschätzung der Rollen (soziale Identität)

Wir definieren uns oft über unsere Rollen und Beziehungen:

„Ich bin eine Mutter/ein Vater“

„Ich bin Ärztin/Lehrerin/Künstlerin“

„Ich bin Ehegatte/Partner“

„Ich bin erfolgreich/erfolglos“

Wenn diese Rollen herausgefordert werden oder sich verändern, leiden wir, weil wir diese vorübergehenden Positionen mit unserer wahren Identität verwechselt haben. So wie ein Schauspieler nicht dauerhaft von den Figuren, die er spielt, beeinflusst wird, bleibt unser wahres Selbst durch die verschiedenen Rollen, die wir im Leben spielen, unverändert.

Ändert sich dein Wesen, wenn du aus dem Beruf aussteigst? Wenn die Kinder erwachsen werden und das Haus verlassen, hören die Eltern dann auf, als Bewusstsein zu existieren? Diese Rollen sind wie Kostüme, die wir tragen – nützlich für das Spiel des Lebens, aber nicht unsere wahre Identität.

Fehleinschätzung der Gedanken (mentale Identität)

Die vielleicht hartnäckigste Fehlinterpretation findet bei unseren Gedanken statt:

„Ich bin meine Überzeugungen und Meinungen“

„Ich bin mein Wissen“

„Ich bin meine Erinnerungen“

„Ich bin meine Pläne und Ziele“

Vedanta weist auf eine entscheidende Tatsache hin: Wir können unsere Gedanken beobachten. Wenn wir sie beobachten können, wie können wir sie dann sein? Der Beobachter muss sich von dem Beobachteten unterscheiden. Genauso wie Wolken, die durch den Himmel ziehen, die Natur des Himmels nicht beeinflussen, verändern Gedanken, die durch das Bewusstsein ziehen, nicht dessen wesentliche Natur.

Beachte, wie sich Gedanken ständig verändern, während das Bewusstsein, das sie beobachtet, unverändert bleibt. Du bist dieses unveränderliche Bewusstsein, nicht die sich verändernden Gedanken.

Fehleinschätzung von Emotionen (Emotionale Identität)

Wir sagen oft:

„Ich bin glücklich/traurig“

„Ich bin wütend“

„Ich bin besorgt“

„Ich bin friedlich“

Diese emotionale Fehlidentifikation ist eine besondere Herausforderung, weil sich Emotionen so intim und mächtig anfühlen. Der Vedanta erinnert uns jedoch daran, dass Emotionen, wie Wettermuster, vorübergehende Phänomene sind, die sich durch den Raum des Bewusstseins bewegen.

Wenn Ärger aufkommt, muss es ein Bewusstsein geben, das diesen Ärger wahrnimmt. Dieses Bewusstsein – deine wahre Natur – ist weder wütend noch friedlich. Es ist der unveränderliche Zeuge für alle emotionalen Zustände.

Fehleinschätzung von Wahrnehmungen (erlebte Identität)

Wir verwechseln unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen mit dem, was wir sind:

„Ich bin ein guter/schlechter Mensch“

„Ich bin talentiert/untalentiert“

„Ich habe Glück/Unglück“

„Ich werde geliebt/nicht geliebt“

Diese Wahrnehmungen beruhen auf vergangenen Erfahrungen und den Meinungen anderer, und doch nehmen wir sie als bestimmende Merkmale unserer Identität. Der Vedanta lehrt, dass dies lediglich Interpretationen sind, die im Bewusstsein erscheinen, nicht das Bewusstsein selbst.

Der Weg zur Befreiung

Das intellektuelle Verstehen dieser Lehre ist nur der Anfang. Vedanta bietet praktische Wege, diese Wahrheit zu erfahren:

  1. Selbstbefragung (Atma Vichara): Die ständige Frage „Wer bin ich?“ und die Unterscheidung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten.
  2. Meditation: Die Wellen des Geistes beruhigen, um unsere wahre Natur klarer zu sehen.
  3. Unterscheidung (Viveka): Die Entwicklung der Fähigkeit, zwischen dem Dauerhaften (Bewusstsein) und dem Unbeständigen (Körper, Gedanken, Gefühle) zu unterscheiden.
  4. Zeugendes Bewusstsein (Sakshi Bhava): Das Kultivieren der Perspektive, der unveränderliche Beobachter aller Erfahrungen zu sein.
Das Versprechen der Freiheit

Was diese Lehre so kraftvoll macht, ist ihr Versprechen auf echte Freiheit. Wenn wir beginnen, uns selbst als das unveränderliche Bewusstsein zu erfahren und nicht als die sich verändernden Phänomene, die wir beobachten, tritt eine tiefgreifende Veränderung ein. Schmerz mag immer noch existieren, aber Leiden wird optional. Herausforderungen können auftauchen, aber unser Frieden bleibt ungestört.

Dies ist der Zustand der Befreiung, auf den der Vedanta hinweist – nicht eine Flucht vor den Erfahrungen des Lebens, sondern eine grundlegende Veränderung unserer Beziehung zu ihnen. Wir beginnen, uns als das zu erfahren, was wir wirklich sind: das riesige, grenzenlose Bewusstsein, das nie geboren wurde und nie sterben wird, der ewige Zeuge aller sich entfaltenden Dramen des Lebens.

Das Verstehen leben

Die praktische Anwendung dieser Weisheit bedeutet nicht, dass wir losgelöst oder gefühllos werden. Vielmehr erlaubt sie uns, uns ohne die Last der falschen Identifikation vollständiger auf das Leben einzulassen. Wir können zutiefst lieben, leidenschaftlich arbeiten und intensiv fühlen – und dabei das Bewusstsein unserer wahren Natur als unveränderlicher Zeuge bewahren.

Die vedantische Lehre über das Leiden bietet eine radikale Neugestaltung unserer menschlichen Erfahrung. Sie besagt, dass unsere wahre Natur – Satchitananda – bereits vollkommen, vollständig und frei ist. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, etwas Neues zu werden, sondern die Schleier der falschen Identifikation zu entfernen, die diese Wahrheit vor unserer Erfahrung verbergen.

Wenn wir auf diesem Pfad des Verstehens voranschreiten, beginnen wir zu erfahren, was die alten Rishis beschrieben haben: einen Zustand des Seins, in dem wir selbst inmitten der unvermeidlichen Höhen und Tiefen des Lebens im Frieden und in der Fülle unserer wahren Natur verankert bleiben. Das ist das Versprechen des Vedanta – keine Flucht vor dem Leben, sondern eine vollständige Transformation der Art und Weise, wie wir es erleben.

Denke daran: Du bist nicht die Wellen auf dem Wasser – du bist das Bewusstsein, das sie beobachtet. In diesem Verständnis liegt der Schlüssel zur Freiheit vom Leiden.