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Ashtanga Vinyasa: Jenseits der starren Sequenzen

In der Yogawelt haben nur wenige Stile so viel internationale Anerkennung erlangt wie Ashtanga Vinyasa, ein strenger und methodischer Ansatz, der von Sri K. Pattabhi Jois (1915-2009) popularisiert wurde. Während viele Praktizierende heute den festen Sequenzen der Primären Serie, der Mittleren Serie und darüber hinaus folgen, offenbaren die historischen Wurzeln dieser Praxis einen fließenderen und anpassungsfähigeren Ansatz als den, der üblicherweise in modernen Ashtanga-Shalas gelehrt wird.

Krishnamacharya: Der Lehrer hinter der Legende

Um die Ursprünge von Ashtanga zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick auf Tirumalai Krishnamacharya (1888-1989) werfen, den Lehrer von Pattabhi Jois und den Mann, der oft als Vater des modernen Yoga angesehen wird. Krishnamacharyas Unterricht im Mysore Palace Yoga Shala von 1933 bis 1955 legte den Grundstein für das, was später als Ashtanga Vinyasa bekannt werden sollte.

Im Gegensatz zum heutigen standardisierten Ansatz war Krishnamacharyas ursprüngliche Lehrmethodik bemerkenswert flexibel. Historische Belege deuten darauf hin, dass er sich nicht an strenge, vorgegebene Abläufe hielt.

Stattdessen hat er:
  • die Haltungen für längere Zeit gehalten, anstatt sie schnell zu durchlaufen.
  • die Sequenzen auf die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Konstitutionen der einzelnen Teilnehmer zugeschnitten.
  • in der Yoga-Shala vor allem mit Jungen und Männern gearbeitet und die Übungen an ihre jugendliche Vitalität und körperlichen Fähigkeiten angepasst.
Die bis Fünf-Zählen-Atmung und der Einfluss des Maharadschas

Die charakteristische Atmung bis fünf (Pañca vinyāsa), die die moderne Ashtanga-Praxis ausmacht, ist wahrscheinlich aus praktischen Überlegungen entstanden. Als der Maharadscha von Mysore, Krishna Raja Wadiyar IV, Krishnamacharya damit beauftragte, Yoga der indischen Bevölkerung zugänglicher zu machen, brauchte Krishnamacharya einen Ansatz, der folgendes konnte:

  1. systematisch an Gruppen unterrichtet werden
  2. Ein breiteres Publikum ansprechen
  3. die körperlichen Vorteile von Yoga auf nachweisbare Weise darzustellen

Diese Mission stimmte perfekt mit den Anweisungen überein, die Krishnamacharya von seinem ersten Lehrer, Ramamohan Brahmachari, erhalten hatte, der ihn angewiesen hatte, zu heiraten, als Hausherr zu leben und Yoga im ganzen Land zu verbreiten.

Pattabhi Jois und die personalisierte Sequenz

Der vielleicht faszinierendste Einblick in die Entwicklung von Ashtanga ist, dass die Sequenz, die Pattabhi Jois später weltweit lehrte, wahrscheinlich speziell für ihn als Schüler entwickelt wurde. Krishnamacharya, der für sein scharfsinniges Auge bekannt ist, hat Jois‘ besondere Konstitution, seine Stärken und entwicklungsbedürftigen Bereiche beobachtet, bevor er eine für ihn persönlich passende Praxis entwickelte.

Im Laufe der Zeit, als Jois mit dem Unterrichten begann, wurde diese personalisierte Abfolge standardisiert und in die Primäre Serie (Yoga Chikitsa), die Mittlere Serie (Nadi Shodhana) und die Fortgeschrittene Serie (Sthira Bhaga) übertragen, denen die Praktizierenden heute folgen.

Die Überlieferungsträger: Verschiedene Interpretationen von Krishnamacharyas Lehre

Der Einfluss von Krishnamacharya geht weit über Pattabhi Jois hinaus. Seine anderen prominenten Schüler (um nur einige zu nennen, und die, von denen ich das Glück hatte, persönlich zu lernen) entwickelten deutlich unterschiedliche Herangehensweisen an Yoga, was darauf hindeutet, dass der Meister selbst mit bemerkenswerter Anpassungsfähigkeit lehrte:

  • T.K.V. Desikachar (der Sohn von Krishnamacharya): Entwickelte Viniyoga, der die individuelle Praxis mit sorgfältiger Aufmerksamkeit auf die Atmung, die Anpassung an individuelle Bedürfnisse und therapeutische Anwendungen betont. Wie in „The Heart of Yoga“ dokumentiert, betonte Desikachar die Überzeugung seines Vaters, dass „Yoga an das Individuum angepasst werden muss, nicht das Individuum an Yoga“.

  • B.K.S. Iyengar: Er entwickelte einen präzisen, auf die Ausrichtung ausgerichteten Ansatz mit umfangreichem Einsatz von Requisiten, um die Haltungen für alle Körper zugänglich zu machen. Sein bahnbrechendes Werk „Light on Yoga“ (1966) zeigt, wie Yoga akribisch an individuelle anatomische Unterschiede angepasst werden kann.

  • B.N.S. Iyengar: Ein weiterer direkter Schüler von Krishnamacharya, der Elemente des kraftvollen Vinyasa-Ansatzes beibehielt und gleichzeitig die Präzision der Ausrichtung und Atemkontrolle betonte.

  • A.G. Mohan und Indra Mohan: Diese langjährigen Schüler Krishnamacharyas haben maßgeblich dazu beigetragen, seine spätere Lehrmethodik zu bewahren und weiterzugeben, die sich stark auf therapeutische Anwendungen konzentrierte. Die Mohans betonen, wie wichtig es ist, die Praktiken an das Alter, den Beruf, die Konstitution und den spezifischen Gesundheitszustand des Einzelnen anzupassen – Prinzipien, die für Krishnamacharyas ausgereifte Lehrmethode von zentraler Bedeutung waren, die aber in den standardisierten Ansätzen des Yoga manchmal übersehen werden.
Historischer Kontext und moderne Wissenschaft

Moderne Yogawissenschaftler haben die Entwicklung von Ashtanga zusätzlich beleuchtet:

  • Mark Singleton: In „Yoga Body: The Origins of Modern Posture Practice“ (2010) zeigt Singleton, wie Krishnamacharyas Methodik von den Bewegungen der westlichen Körperkultur beeinflusst wurde, und legt nahe, dass das, was wir heute praktizieren, sowohl alte als auch moderne Elemente enthält.

  • James Mallinson und Mark Singleton: Ihr gemeinsames Werk „Roots of Yoga“ (2017) zeichnet die Textgeschichte der Yogapraktiken nach und bietet einen Kontext für das Verständnis, wie modernes posturales Yoga mit historischen Traditionen zusammenhängt.

  • Norman Sjoman: In „The Yoga Tradition of the Mysore Palace“ (1996) untersucht Sjoman die Sritattvanidhi, ein illustriertes Manuskript aus dem Mysore-Palast, in dem gymnastische Übungen dargestellt sind, die wahrscheinlich Krishnamacharyas Lehre beeinflusst haben.

Modernes Ashtanga neu denken: Balance in Tradition und Veränderung finden

Das Verständnis dieses reichhaltigen historischen Kontextes lädt uns dazu ein, zu überdenken, wie wir die Ashtanga-Praxis heute angehen. Anstatt die Sequenzen als unveränderlich oder heilig zu betrachten, könnten wir sie als wunderschön gestaltete Vorlagen ansehen, die mit Bedacht angepasst werden können – und vielleicht auch sollten.

Das bedeutet nicht, dass die Kernprinzipien aufgegeben werden, die Ashtanga so kraftvoll machen: der Tristhana-Ansatz (Atmung, Bandha und Drishti), das Vinyasa-Zählsystem oder die meditative Qualität der Praxis. Stattdessen bedeutet es, Krishnamacharyas ursprünglichen Geist der Anpassung zu umarmen und gleichzeitig die Integrität dieses tiefgreifenden Systems zu bewahren.

Ehrung der Tradition durch achtsame Adaption

Für mich liegt die Schönheit von Ashtanga Vinyasa in seinem systematischen Ansatz zur körperlichen, geistigen und spirituellen Transformation. Um Ashtanga auf eine Art und Weise zu praktizieren, die sowohl seine traditionelle Struktur als auch seine anpassungsfähigen Ursprünge ehrt, solltest du folgendes berücksichtigen:

  1. Respekt vor der individuellen Anatomie: Nicht alle Körper können oder sollten die gleichen Bewegungen auf die gleiche Weise ausführen. Geringfügige Anpassungen an die einzigartige Struktur des Körpers ehren die ursprüngliche Absicht von Yoga als Heilungspraxis.

  2. Umgang mit modernen Lebensstilen: Heutige Teilnehmer kommen oft mit Herausforderungen auf die Matte, die die jungen Burschen im Mysore-Palast nicht kannten – Schreibtischjobs, Stressmuster und andere kulturelle Kontexte. Eine intelligente Anpassung erkennt diese Realitäten an.

  3. Umarmung der therapeutischen Absicht: Die Primäre Serie, „Yoga Chikitsa“, bedeutet übersetzt „Yoga-Therapie“. Echte Therapie befasst sich mit spezifischen Zuständen, anstatt einen Einheitsansatz anzuwenden.

  4. Beibehaltung des meditativen Fadens: Welche Anpassungen wir auch immer vornehmen, sollten die meditative Qualität der Praxis bewahren – die Verbindung von Atmung und Bewegung, die Kultivierung von Drishti (konzentrierter Blick) und das innere Gewahrsein, das die körperliche Übung in Yoga verwandelt.

  5. Einen entwicklungsorientierten Ansatz wählen: Das schrittweise Hinzufügen von Haltungen je nach Bereitschaft und nicht in strenger Reihenfolge kann Verletzungen verhindern und eine nachhaltige Praxis fördern – genau das, was Krishnamacharya mit seinen Schülern tat.

Wenn wir uns Ashtanga mit Ehrfurcht vor der Tradition und intelligenter Anpassung nähern, können wir entdecken, dass die Praxis nicht nur nachhaltiger, sondern auch transformativer wird. Dabei ehren die Ashtanga-Yoga-Klassen bei Manas Yoga nicht nur die Form der Praxis, die Pattabhi Jois gelehrt hat, sondern auch den anpassungsfähigen Geist, den Krishnamacharya verkörperte – so wird dieses kraftvolle Yogasystem für alle, die sich ihm mit aufrichtiger Hingabe nähern, zugänglich, nützlich und nachhaltig.

Ich denke, dass die „wahre“ Ashtanga-Linie vielleicht nicht durch die perfekte Einhaltung festgelegter Formen geehrt wird, sondern durch die Verkörperung ihres tieferen Ziels: die Kultivierung von Kraft, Flexibilität, Konzentration und innerem Frieden – Qualitäten, die über eine bestimmte Abfolge von Körperhaltungen hinausgehen und den Praktizierenden ihr ganzes Leben lang dienen.

Foto: Nina Strasser